Jahresbericht 99

 

Texte & Dokumente
Eine kleine Auswahl von Artikeln,
in denen PSYCHEX eine Rolle spielt (wird in den nächsten Tagen aktualisiert)

 


 

 

Tages-Anzeiger 29.6.96

Nach 16 Jahren aus der Klinik entlassen


Beobachter 26/99

über den Berufsverbotsprozess
gegen E. Schönenberger

 


 

Tages-Anzeiger 11.6.97

PSYCHEX-Beschwerde in Strassburg


Tages-Anzeiger 18.1.96

Psychiatrie-Groteske

 

 

 

 

 

 

Beobachter 26/99

24.12.99

Mensch und Justiz:
Richterarbeit als "Wurstsalat" beschimpft

Wie bissig darf ein Anwalt sein? Edmund Schönenberger, Kämpfer gegen die Zwangspsychiatrie, beschimpft die Justiz als "Affentheater". Die Folge: Busse und befristetes Berufsverbot. Doch der Aufmüpfige zieht den Fall weiter.

von Ueli Zindel

Ewige Ruh. Auf immer ewige Ruh." Der junge Mann hat das Kartonkreuz auf seiner Brust mit einem fetten Filzstift beschrieben. Eine Frau in der Ecke des Eingangsraums referiert leise vor sich hin: "Terrorregime. Ein fertiges Terrorregime." Entrée und Warteraum des Obergerichts sind rauchgeschwängert. Obwohl die Verhandlung frühmorgens beginnt, ist Publikum aus der ganzen Schweiz hergereist. Ein älterer Herr schlägt die Hacken zusammen. Er grüsst, den Blick in die Ferne gerichtet, und lacht.
In wenigen Minuten wird die Aufsichtskommission über die Zürcher Rechtsanwälte tagen. Sie wird ein Urteil fällen über Edmund Schönenberger, Advokat. Wird er seinen Beruf weiterhin ausüben dürfen? Schönenberger kämpft seit 1987 für Menschen, die gegen ihren Willen in einer psychiatrischen Anstalt festgehalten werden.

Erster öffentlicher Anwaltsprozess
Die Türflügel des Geschworenensaals öffnen sich. In kurzer Zeit sind die 120 Sitze des Saals besetzt. ähnliche Anlässe fanden bisher nur hinter verschlossenen Türen statt; andere Anwälte bangen um ihr Patent lieber im Verborgenen. Schönenberger wünschte ausdrücklich, dass der Anlass öffentlich stattfindet. Es ist 8 Uhr 15. "Die Anhörung ist eröffnet", erklärt jetzt der Gerichtspräsident via Mikrofon. Stille. "Nur eine Anhörung?", ruft der Angeklagte. "Sie könnten ja auch ein Gespräch mit mir führen!" "Ja", sagt der Richter und macht eine bedeutungsvolle Pause, "wenn ich dies für nötig erachte." Abermals Pause.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Schönenberger zuckt die Achseln. Ein "historischer Prozess" finde hier statt, erklärt er dann. Bei allen anderen Prozessen habe er mutterseelenallein vor den Richtern gestanden. Historisch sei der Prozess auch deswegen, weil er seine Notizen zum ersten Mal schriftlich festgehalten habe, "für die Nachwelt nämlich". Und historisch ist auch das Zitat, das er seiner Rede voranstellt: "Mit grösserer Furcht verkündet ihr vielleicht das Urteil, als ich es entgegennehme." Es stammt von Giordano Bruno, dem Ketzer, der im Jahr 1600 in Rom verbrannt worden war. Ein schwieriger Morgen.

Eine lange Geschichte. Eine Anklageschrift gibt es nicht. Es dauert dreiviertel Stunden, bis wir erfahren, was Schönenberger vorgeworfen wird. "In aller Deutlichkeit" hält dieser fest, dass er weder eine Bank ausgeraubt, einen Menschen umgebracht noch einem Klienten geschadet habe; es gehe dem Gericht einzig darum, ihn auszuschalten. "Das stinkt ja zum Himmel!"

Schönenberger wird vorgeworfen, er habe seine Anwaltspflichten gröblich verletzt. In einer Eingabe zuhanden des Obergerichts, einem gerichtsinternen Dokument, hatte er 1998 von einem "ungeniessbaren juristischen Wurstsalat" gewisser Richter gesprochen; sie hätten sich einen "epochalen Betrug" zuschulden kommen lassen; bei dem Verfahren habe es sich um "reines Affentheater" gehandelt, ja die hohen Richter hätten "betmühleartig ihre Sprüchlein von Recht und Gerechtigkeit" heruntergeleiert. Das kritisierte Gericht hatte entschieden, dass eine Tochter den Klinikaufenthalt ihrer zwangspsychiatrisierten Mutter zu finanzieren hatte, die verstorben war. Beteiligt an diesem Urteil waren auch österreichische Richter. Schönenberger sprach von der "vereinigten habsburgischen und alpengermanischen Plutokratie".

 

 

 

 

 

 

Die Aufsichtskommission über die Rechtsanwälte des Kantons Zürich besteht aus drei Oberrichtern, einem Staatsanwalt und drei Anwälten des kantonalen Anwaltsverbands. Sie stutzen, sie lächeln, und sie sind konsterniert. Edmund Schönenbergers Eingangsreferat dauert knapp eine Stunde. "Mein Territorium ist von der Grösse einer Schuhsohle", erklärt er. "Ich gehöre keiner Nation mehr an." Er lächelt zu seinem Publikum. "Ich habe gelernt, mich im Dschungel der Blutgeldmetropole zu bewegen." Er hebt den Zeigefinger: "Dieser Staat präsentiert sich als Diktatur der Reichen." Der Angeklagte hat geschlossen. Stürmischer Applaus, Jauchzer, Bodenstampfen. Schönenberger bedankt sich herzlich. Ein Zuschauer erhebt sich, spricht den Richter an: "Könnten Sie mir jetzt endlich Ihren Namen sagen? Ich hasse Anonymität!" Der Vorsitzende stellt höflich die richterliche Runde vor. Eine Dame ruft: "Und welchen Parteien gehört ihr eigentlich an?" Der Richter: "Wenn die Verhandlung weiterhin gestört wird, muss ich den Saal räumen." Es wird still.

 

Kritik an der Zwangspsychiatrie

Schönenberger ist ein Mann mit Prinzipien. Noch nie hat er einen wirtschaftlich Stärkeren gegen einen wirtschaftlich Schwächeren verteidigt. Dies hält sein Anwalt nachdrücklich fest. Das Verfahren gegen seinen Mandanten sei blanker Zynismus; er habe gegen den Irrsinn unserer Psychiatrie Pionierarbeit geleistet. Ein Advokat sei nicht Diener des Gerichts, sondern des Klienten. Für das Wort "Affentheater" sei allerdings eine Entschuldigung vonnöten. über Jahre hätten nicht wenig Aerzte die Meinung vertreten, nur sie wüssten, was für ihre Patienten gut sei; die "Kranken" hätten keine Verteidigung nötig. "Die Zwangspsychiatrie ist und bleibt ein Politikum!"

Nach knapp zwei Stunden leert sich der Saal. Das Gericht zieht sich zur Beratung zurück.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

L.B., ein Bankangestellter, erzählt derweil im Warteraum seine Geschichte: Seine Frau habe ihn verlassen; er habe verzweifelt seinen Hausarzt aufgesucht; dieser habe ihn prompt internieren lassen gegen seinen Willen. "Schönenberger holte mich raus." B.S., einer jungen Frau, erging es ähnlich. Wegen Unwohlseins hatte sie sich ins Kantonsspital begeben. Auch ihre Konsultation führte zwangsweise in die psychiatrische Klinik. Der angeklagte Anwalt holte sie wieder raus. Nationales Aufsehen erregte ein Fall von 1984: Er war als Titelgeschichte im Beobachter zu lesen. 22 Jahre hatte Karl W. in psychiatrischen Kliniken zugebracht und dabei zahllose Entlassungsgesuche gestellt. Die Aerzte stuften ihn als unheilbar ein. Ein Leben in Freiheit, hiess es, sei dem "Schizophrenen" nicht zuzumuten. Karl W. hatte zwangsweise Medikamente einzunehmen. Sein äusseres vernachlässigte er stark, doch kriminelle Handlungen hatte er keine begangen. Nach zehn Jahren Prozessierens wurde Karl W. wegen Freiheitsberaubung eine Genugtuungssumme von 120'000 Franken zugesprochen. Er lebt seither wohlauf in Freiheit. Ohne Medikamente.

Urteil:

Busse und Berufsverbot Schönenbergers Verdienste sind unbestritten; sie haben aber auch etliche Schattenseiten. Die Frage, ob all seine "befreiten" Mandanten mit ihrer Freiheit auch umgehen können, darf mindestens gestellt werden. Die Psychiatrie ist nicht, wie Schönenberger vertritt, grundsätzlich unnötig. Der Angeklagte aber liebt Grundsatzfragen; was er nicht schätzt, ist Diplomatie. Hat Schönenberger also seine Anwaltspflichten "gröblich verletzt"? Wählte er eine ungebührliche Sprache? Es ist 10 Uhr 15.

Schönenberger ist siegesgewiss. "Das kommt gut!", strahlt ihn ein Herr aus dem Publikum an. Es kam nicht gut. Edmund Schönenberger wird mit einer Busse von 1000 Franken bestraft; die Gerichtsgebühr geht zu seinen Lasten; den Beruf darf er während dreier Monate nicht mehr ausüben. Gegen das Urteil wird er Berufung einlegen.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

TA

11.6.1997

PSYCHEX-Beschwerde gestützt

Eine vom Bundesgericht 1995 abgewiesene Klage aus dem Kanton Zürich im Zusammenhang mit Patienteninformation ist nicht vom Tisch.

Die Europäische Menschenrechtskommission in Strassburg hat eine Klage des Vereins PSYCHEX zugelassen. Das Bundesgericht hatte einen Entscheid des Regierungsrats gestützt. Er hatte es dem Verein untersagt, mit einem Rundbrief unfreiwillige Patientinnen und Patienten der Psychiatrischen Klinik Rheinau über deren Rechte zu informieren. Die Parteien seien nun aufgefordert, der Kommission in Strassburg Vorschläge für eine gütliche Einigung zu unterbreiten, teilte der Verein mit.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

TA

29.6.1996

Nach 16 Jahren aus der Klinik entlassen

Ein harmloser Exhibitionist war seit 1980 in der Klinik Hard interniert, obwohl die Aerzte ihm gar nicht helfen konnten

Zuerst war es eine strafrechtliche Massnahme, die dauernd verlängert wurde. Dann versuchte die Vormundschaftsbehörde, den Mann in der Klinik zu behalten. Doch weder die Aerzte noch der Richter sahen einen triftigen Grund dafür.

Autor: VON DANIEL SUTER

Unspektakuläres Ende einer beinahe endlosen Internierung: Ein strahlender Reto Huber (Name geändert) stand am Dienstagnachmittag auf der Piazza des Psychiatrie-Zentrums Hard in Embrach: "Jetzt gehe ich heim." Heim wohin? "Heim zu den Eltern." Sechzehn Jahre lang war sein Zuhause diese Klinik gewesen, jetzt nicht mehr. Der Einzelrichter des Bezirksgerichts Bülach hatte die Klinikleitung angewiesen, Reto Huber "sofort zu entlassen".

Immer wieder Jugendliche angefasst

Reto Huber ist ein kontaktfreudiger, liebenswürdiger Mann von 35 Jahren. Zum Verhängnis wurde ihm, dass er von Zeit zu Zeit den Drang verspürt, seinen Penis vor männlichen Jugendlichen zu entblössen. Es begann, als er ins Pubertätsalter kam. Der Fünfzehnjährige griff immer wieder anderen Buben zwischen die Beine. 1976 gab es ein erstes Strafverfahren wegen "wiederholter Nötigung zu einer unzüchtigen Handlung". Der Jugendanwalt verfügte als Erziehungsmassnahme für den emotional und geistig kindlich gebliebenen Reto eine "medikamentöse Therapie zur Dämpfung des Geschlechtstriebes". Die Therapie zeigte - wie auch alle späteren Behandlungen - keinen Erfolg. Eine Hormonkur hatte bloss zur Folge, dass Reto Hubers Körper fülliger wurde. Doch seine triebhaften raschen übergriffe hielten an. Sie schockierten manche der betroffenen Jugendlichen, obwohl Huber keine Gewalt anwandte.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Es gab weitere Strafverfahren mit kleinen Strafen, die alle in die gleiche Massnahme umgewandelt wurden, die Einweisung in eine Heil- und Pflegeanstalt. Seit Juni 1980 war Reto Huber in der Klinik Hard interniert, nicht direkt eingeschlossen, aber auch kein freier Mann. Aus Strafen von total 34 Tagen Gefängnis wurde eine immer wieder verlängerte Massnahme von sechzehn Jahren Dauer. Die meisten Mörder sitzen kürzer.

Verbotene Sexualität

In Embrach war Herr Huber ein angenehmer Patient. Er half der Klinik mehr, als dass sie ihm helfen konnte. Sein Einsatz als Hilfspfleger auf der Altersabteilung wurde sehr geschätzt. Ab und zu entwich er kurz aus dem Psychiatrie-Zentrum und exhibitionierte sich vor Jugendlichen; einmal nur, im Oktober 1986, ist bekannt geworden, dass er wieder einem Jungen an den Hosenschlitz gefasst hatte. In der Klinik ist Sexualität verboten. Der ärztliche Direktor erklärte diese Woche an der Gerichtsverhandlung den Grund: "Unsere Patientinnen und Patienten sind zum Teil nicht urteilsfähig, und wir sind für ihr Wohl verantwortlich. Wegen dieser Garantenstellung der Klinik gilt bei uns die Hausregel, dass sexuelle Kontakte unter Patienten nicht erwünscht sind. Ich verstehe, dass das für Herrn Huber, der nicht auf eine Akutstation passt, eine unmögliche Situation ist." Reto Huber hatte einmal ein Verhältnis mit einem Patienten, den er seit acht Jahren kennt. "Als der Arzt mir das verbot", erzählte er, "habe ich ihm gesagt: Ihr Doktoren habt es gut, ihr könnt am Abend heimgehen. Aber ich bleibe in der Anstalt und soll mich zusammenreissen."

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Gericht hob die Massnahme auf

Irgendwie hatte man sich allseits daran gewöhnt, dass Reto Huber zum Inventar der Klinik Hard gehörte. Sein gelegentliches Exhibitionieren schien die Fortdauer der strafrechtlichen Massnahme zu rechtfertigen. Erst als 1994 ein neuer Anwalt den Fall genauer anschaute, kam Bewegung in das Verfahren. Der Anwalt stellte den Antrag, die Massnahme sei als gescheitert zu erklären und der Patient sei zu entlassen. Die Justizdirektion opponierte. Doch das damals zuständige Bezirksgericht Uster kam im Mai 1995 zum Schluss, "trotz der hohen Rückfallwahrscheinlichkeit" seien die zu befürchtenden Delikte von Reto Huber "von geringer Schwere", da er nur exhibitioniere und keine Gewalt anwende. Die lange Dauer der Massnahme stehe in keinem Verhältnis zu seinen Taten. Das Gericht beschloss deshalb die Entlassung auf 31. August 1995.

 

Nahtlose Fortsetzung mittels FFE

Drei Wochen vor dem Entlassungstermin war für Reto Huber noch immer kein Platz in einem Wohnheim gefunden. Da verhängte die Vormundschaftsbehörde kurzerhand die Fürsorgerische Freiheitsentziehung (FFE) über ihn. Die strafrechtliche Massnahme war zwar aufgehoben, doch nun wurde Huber zivilrechtlich "versenkt". äusserlich änderte sich gar nichts, denn die Vormundschaftsbehörde bestimmte die Klinik Hard als "geeignete Anstalt" im Sinne des Gesetzes. Ein Anwalt von PSYCHEX, einem Verein, der für die Freiheitsrechte von Psychiatriepatientinnen und -patienten eintritt, nahm sich nun des Falls an. Das erste Entlassungsgesuch lehnte das Bezirksgericht Bülach Anfang März wegen der "hohen Rückfallgefahr" ab. Am vergangenen Dienstag verhandelte das Gericht über ein zweites Entlassungsgesuch. FFE-Prozesse finden in der Anstalt statt, in welcher der Gesuchsteller untergebracht ist. Ein Bezirksrichter und eine Gerichtssekretärin reisten von Bülach an, aus Zürich kam ein Psychiater, der Reto Huber begutachten musste. Ein Schulungsraum für Aerzte wurde für zwei Stunden zum Gerichtssaal. Von FFE-Verhandlungen ist die öffentlichkeit ausgeschlossen, doch kann der Gesuchsteller zwei Vertrauenspersonen mitbringen. Reto Huber lud dazu je einen Journalisten des TA und des "Beobachters" ein und erklärte sich damit einverstanden, dass sie über seinen Fall berichteten.

 

 

 

 

 

 

 

Plötzlich sind alle für Entlassung

In der Verhandlung waren alle Personen, die der Richter befragte, der gleichen Meinung: Reto Huber gehört nicht in eine psychiatrische Klinik. Der externe Psychiater, der Klinikdirektor, der behandelnde Arzt, der seit Oktober 1995 eingesetzte Amtsvormund und natürlich der Rechtsanwalt - ohne Ausnahme plädierten sie für die Entlassung des Patienten. Die Rückfallgefahr (Ende Mai hatte Reto Huber an einem Bahnhof wieder sein Glied hervorgeholt) werteten sie als das kleinere übel. Der Klinikdirektor erwähnte zwar Telefonanrufe von Eltern, die er wegen Reto Hubers Exhibitionismus anhören musste: "Da ist kein Verständnis zu spüren. Es gibt immer ein hartes Echo, wenn etwas passiert." Aber auch er sah keine "Fremdgefährdung", wie es die Vormundschaftsbehörde behauptet hatte. Nach kurzer Beratung eröffnete der Richter das Urteil: "Das Gesuch wird gutgeheissen, und die ärztliche Leitung wird angewiesen, den Gesuchsteller sofort zu entlassen." Und zu Reto Huber gewandt, sagte er: "Wir sind zwar der Meinung, dass ein grosses Rückfallrisiko besteht, anderseits scheint uns dieses Risiko tragbar, wenn Sie betreut werden." Wenige Minuten später stand Reto Huber glücklich draussen. Noch am gleichen Abend fuhr er heim zu seinen Eltern. In ein paar Tagen kann er eine Einzimmerwohnung beziehen, die sein Vormund für ihn gefunden hat. Ganz in der Nähe ist eine geschützte Werkstätte, sein künftiger Arbeitsort.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

TA

18.1.1996

 

Die kurze Freiheit des Mario S.

VON VIVIANE LüDI

Aus der Psychiatrie entlassen - Polizei wartete mit Haftbefehl

Ein Jahr lang hatte er auf diesen Moment gewartet: die Entlassung aus der Psychiatrischen Klinik Rheinau. Der Einzelrichter hiess am Dienstagabend sein viertes Entlassungsgesuch gut. Nur knappe fünf Minuten aber dauerte die Freiheit des Mario S. Vor der Tür wartete die Polizei mit einem Haftbefehl. Breitbeinig sitzt er da, den Kopf in den Händen, die nervös auf und ab fahren und immer schneller werden, als der Richter in seiner Urteilsverkündung endlich zum einzig wichtigen Punkt kommt: " . . . mit sofortiger Wirkung entlassen". Im Verhandlungszimmer der Psychiatrischen Klinik Neu-Rheinau ist das Aufatmen der Anwesenden zu hören. Erleichterung in den Gesichtern seiner Pflegemutter, der Freundin und ihrer Schwester. Draussen dann, vor der Tür, fallen sie sich in die Arme. Mario S. darf die Anstalt nach einem Jahr verlassen, endlich. Er kann es noch kaum fassen. Dafür aber sollte ihm auch keine Zeit bleiben: Unbemerkt haben sich drei Polizisten postiert. Kalt lächelnd eröffnen sie Mario S., er habe mitzukommen, sie hätten einen Vorführbefehl. Erregung im Gang: "Ich bin sein Anwalt", ist zu hören, doch ausrichten kann er nichts. Mario S. wird wortlos abführt - das abrupte Ende einer kurzen Freiheit. Der 22jährige, eben aus der geschlossenen Abteilung entlassen, tauscht seine trostlose Bleibe mit einer Gefängniszelle ein.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Schattenleben

An Rückschläge ist sich Mario S. zeit seines jungen Lebens gewohnt. Nach der Geburt wurde er zur Adoption freigegeben. Als Kind litt er unter einem Psychoorganischen Syndrom (POS), das seine schulische und persönliche Entwicklung hemmte. Schwierig gestaltete sich auch die Beziehung zu seinen Adoptiveltern. Zum Bruch kam es, als er 19 war. Mario S. wurde von der Familie eines Freundes aufgenommen. Schon bald entwickelte sich eine Liebesbeziehung zur Mutter des Freundes. Immer mehr wurde Mario S. zu einem besitzergreifenden Liebhaber. Zum Eclat kam es, als der damals 21jährige die um 26 Jahre ältere Frau vor die Entscheidung stellte, zwischen ihm und ihrem Ehemann zu wählen. Dabei rastete Mario S. aus. Mit einem Gewehr bedrohte er sie, zwang sie schliesslich, mit ihm in einen Wald zu fahren, wo er fünf Schrotladungen in die Luft abfeuerte.

Im Hochsicherheitstrakt 89 A

Mario S. fand sich am 23. Januar 1995 im Hochsicherheitstrakt 89 A der Psychiatrischen Klinik Rheinau wieder, mit Zwischenstation in Untersuchungshaft. Die Vormundschaftsbehörde hatte eine Fürsorgerische Freiheitsentziehung (FFE) verfügt. Dabei stützte sie sich unter anderem auf einen Brief von Marios Adoptivvater, der die "Gefährlichkeit und Unberechenbarkeit" seines Sohnes schilderte und die "Einweisung in eine sichere, geschlossene psychiatrische Klinik" forderte. Es wurde eine stationäre Begutachtung angeordnet. Fast acht Monate nahm sie in Anspruch. Im Mai letzten Jahres stellte Mario S. erstmals ein Entlassungsgesuch bei der damals zuständigen Psychiatrischen Gerichtskommission (PGK) - ohne Erfolg. Ein zweites Gesuch zog er im Juli zurück, nachdem ihm zugesichert worden war, in eine Nachtklinik übertreten zu können. Seine Hoffnung aber wurde enttäuscht. Die Klinikleitung änderte ihre Beurteilung: Schon bei den Vorbereitungen des übertritts habe sich gezeigt, dass Mario "einer derart geringen Belastung kaum standhalten kann". Sein pathologisches Agieren habe zugenommen, die Frage seiner Unberechenbarkeit sei daher wieder aktuell. Im Klartext: Mario S. stelle ein Risiko für die öffentliche Sicherheit dar.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

"Absurde Psychiatrie-Groteske"

So nahm seinen Lauf, was Marios Verteidiger als "absurde Psychiatrie-Groteske" bezeichnete. Das zweite Entlassungsgesuch wurde von der PGK am 13. September 1995 abgewiesen. Der Entscheid stellte im wesentlichen auf die Diagnose der Klinikärzte ab: Mario S. leide noch immer minimal am POS. Ferner sei eine Borderline-Persönlichkeitsstörung festgestellt worden. Erschwerend komme sein Krebsleiden hinzu. Durch Metastasen im Gehirn habe er epileptische Anfälle. Fazit: Ausserhalb des geschützten Rahmens der Klinik könne es leicht zur Eskalation aggressiver Stimmungen kommen. Der Schritt in die Freiheit sei deshalb nicht vertretbar.

Neues Regime mit Einzelrichter

Anders entschied der Andelfinger Richter am Dienstagabend. Mario S. ist einer der ersten Fälle, dessen Entlassungsgesuch vom Einzelrichter zu beurteilen war. Das früher zuständige Fachgericht, die PGK, wurde nach einem Volksentscheid Ende 1995 aufgelöst. Der Richter liess sich durch ein neues psychiatrisches Gutachten überzeugen, dass die Entlassung von Mario S. zu verantworten sei - entgegen der Ansicht von Vormundschaftsbehörde und Klinikleitung.

Von der Vergangenheit eingeholt

Statt neu anzufangen, sitzt Mario S. heute im Gefängnis. Das alte Strafverfahren - wegen Nötigung, begangen, als er seine Pflegemutter zu einer Fahrt in den Wald zwang - hat ihn eingeholt. Sein Rechtsvertreter des Vereins PSYCHEX hält die Art der Festnahme für "absolut scheusslich", und sein Strafverteidiger ist überzeugt, dass Mario S. morgen schon wieder auf freiem Fuss sein wird, da kein Haftgrund vorliege. Der zuständige Bezirksanwalt hingegen hält sich bedeckt: Darüber habe der Haftrichter zu entscheiden. Als Begründung für die erneute U-Haft kommt aber nur Wiederholungsgefahr in Frage. Und von dieser ist der Bezirksanwalt offenbar ausgegangen. So dürfte Mario S. ein Opfer des gegenwärtigen politischen Klimas, dem Ruf nach mehr Sicherheit, geworden sein. "Niemand will schuld sein, wenn doch etwas passiert", stellt Marios Verteidiger resigniert fest.